Zeiträume

David Claerbout: Performed Pictures. Musée d’art moderne et contemporain, Genf. Bis 13. September 2015.

 

IMG_0385

 

cwb. In einem abgedunkelten Raum, auf luftgepolsterten Sesseln sitzend, kann man sich ungestört auf David Claerbouts audiovisuelles Erlebnis «Travel» einlassen. Zu entspannender Synthesizer-Musik führt die Reise durch idyllische, geheimnisvoll beleuchtete Waldlandschaften, die sich wie grosse Clair-obscur-Gemälde in zeitlupenartiger Verzögerung über die Leinwand bewegen. Das durch die Bilder evozierte Gefühl von Langsamkeit und tranceartiger Schwebe wird begleitet von der latenten Erwartung eines Ereignisses, die sich aber bis zum überraschenden Ende nicht erfüllt. Mit dem Verzicht auf eine Handlung schafft der Künstler Spielraum für das Erfahren von Zeit, im Sinne einer «durée», die im Bildprozess zu etwas Form- und Dehnbarem wird.

Unter dem Titel «Performed Pictures» präsentiert das Musée d’art moderne et contemporain in Genf die erste Retrospektive des 1969 geborenen belgischen Künstlers mit Fotografien und Zeichnungen, sowie elf Videoprojektionen – darunter Klassiker wie «Long Goodbye» oder «The Algiers’ Sections of a Happy Moment», aber auch der kürzlich vollendete Film «King».

Viele Werke sind von Archivbildern inspiriert, die Claerbout in Bibliotheken oder im Internet findet, wie die Schwarz-Weiss-Projektion «Shadow Piece», die er auf der Innenansicht einer modernistischen Eingangshalle aus den fünfziger Jahren aufgebaut und mit zwei sich durchdringenden Raum- und Zeitebenen erweitert hat: Die Schatten der Passanten vor der Glasfront werden auf den Boden der Halle projiziert und gelangen ins Innere des Gebäudes, während die Personen selbst draussen bleiben. Das Video wechselt in seinem Verlauf kontinuierlich zwischen dem statischen Bild des leeren Raums und den durch das Schattenspiel bewegten Bildern hin und her. Mit der Positionierung zwischen Fotografie und Film, seinen meisterhaften Bildkompositionen und dem subtilen Umgang mit Licht und Schatten, schafft Claerbout mentale Räume, die den Betrachter nicht nur ins Werk miteinbeziehen, sondern auch ein verändertes Zeitbewusstsein vermitteln.

 

Neue Zürcher Zeitung   Feuilleton   15.8.2015   Nr. 187   Seite 47

Foto: Caroline Weis, 2015