Impressionen eines Jahres

Lena Eriksson – Une année d’artiste. Kunstverein Oberwallis, Visp. Bis 6. September 2015.

 

cwb. Ein japanischer Billettautomat, zwei Grenzbeamte in Kasachstan, eine Bar auf Mallorca, das Zelt eines Obdachlosen in Paris – im Verlauf eines Jahres ist Lena Eriksson nicht nur viel gereist, sie hat die speziellen Momente dieser Zeit auch zeichnerisch festgehalten. So entstand «Une année d’artiste», eine Folge von 62 Zeichnungen, die in der Galerie des Kunstvereins Oberwallis zu sehen sind.

Wie Franz Gertsch oder Gerhard Richter geht Eriksson von fotografischen Vorlagen aus. Mit ihrem unverkennbaren Stil jedoch, der irgendwo zwischen Comics und japanischen Holzschnitten anzusiedeln ist, transformiert die Künstlerin fotografischen Schnappschüsse in ein neues Gefüge aus filigranen Linien, die sie mit wenigen farblichen Akzenten untermalt, um der Zeichnung Tiefe zu geben, einen Schatten anzudeuten oder ein Detail hervorzuheben. Durch den wechselweise am Computer und auf dem Papier verlaufenden Zeichnungsprozess entstehen Bilder mit ganz eigenem Charakter, eine neue Wirklichkeit, in der – so scheint es – die schwarz umrandeten Silhouetten der Gegenstände und Personen von der Farbe des Aquarells zum Leben erweckt werden. Lena Eriksson versteht ihre Arbeit als eine «Untersuchung an der Realität», die sie nicht nur auf Reisen, sondern auch im Alltag, in ihrem Privatleben und an verschiedenen Veranstaltungen praktiziert. Auf diese Weise schafft sie Bilder, die den Betrachter mitten ins Geschehen ziehen, wie beim Aufbau einer Ausstellung in Bangkok oder bei der Zubereitung eines Schweinskopfs daheim in der Küche.

Manche bleiben auf räumlicher Distanz, so der Blick auf eine Häuserzeile n Basel mit dem neuen Roche-Turm im Hintergrund, oder werden durch die Farbnuancen von Licht und Schatten zu entrückten poetischen Momentaufnahmen: ein Teller mit Nudelsuppe, eine Frau mit Hut, die im Halbdunkel eines Diners gedankenverloren am Tisch sitzt, die chinesische Vase auf dem Radiator in einem elsässischen Hotel, wo die Zeit stehenzubleiben scheint. Eine schöne, geistreiche und auch sehr witzige Präsentation, die nicht nur zum Reisen inspiriert.

 

Neue Zürcher Zeitung   Feuilleton   22.8.15   Nr. 193   Seite 44